Daniel Nitt
Gast: Chris Brenner
Die fränkische Provinz, Hipp- und Aleteflecken auf Klaviertasten, Englisch singen ohne ein Wort Englisch zu sprechen, Klavierunterricht vom Papa, Vorspielabende auf Liszts letztem Flügel, Jugend Musiziert. Morgens Viola im Schulorchester, abends Bass in der Grungeband und „Fuck“ auf „Jacques Chirac“ reimen. Backstreet Boys Choreographien nachtanzen. Roxettes „Joyride“-Album verehren, den Französischkurs verweigern, das Noten-Vom-Blatt-Spielen verachten. Trotzdem Musikabitur machen, die erste Kohle mit Webdesign verdienen, vor dem Zivildienst nach Budapest flüchten und sich vom Türsteher einer Oben-Ohne-Bar die Webdesignkohle wieder abnehmen lassen. Eine Woche nicht schlafen, Betten schieben am Tag, Nachtschichten schieben im Tonstudio. Wie in der VW-Golf Werbung mit „Pink Moon“ im Cabrio durch die Nacht fahren, sich in Prinzessin Mononoke verlieben. Versuchskaninchen an der Popakademie Baden-Württemberg, die Studiokaffeemaschine teilen mit Xavier Naidoo. Heiligabend vor zwanzigtausend kreischenden Koreanern auf der Bühne des Olympiastadiums in Seoul, fünf Wochen lang Japantour als Keyboarder, jeden Abend Victoryfingerfotos nach der Show, auf Edamame hängen bleiben. Die erste richtige eigene Band nach eineinhalb Jahren wieder an den Nagel hängen, den Kombi voll mit Equipment und ab nach Schweden. Nur noch skypen mit den Eltern, „1576 km zwischen Bayreuth und Stockholm, muss das wirklich sein, Junge?“
Radiojingles produzieren um bezaubernde Schwedinnen zum Starkbier einzuladen, eine Woche ohne Dusche im Studio übernachten weil der Tank und das Konto leer sind. „Jugend Musiziert“-Juror an der deutschen Schule in Stockholm. Zwei Wochen L.A. ohne Geld dafür mit verlorenem Koffer, Hello-Kitty-Leihzahnbürste. Nach einem Jahr die Nase voll von Köttbullar, ein Jahr auf der Couch in Hamburg, um den Filmscore zu Til Schweigers ZweiOhrKüken mitzuproduzieren. Nicht nur als Songschreiber und Produzent sondern auch als Sänger auf dem Soundtrack landen. Im Sommer als Keyboarder mit Howard Carpendale touren, Popsongs für Christina Stürmer schreiben, Rosenstolz remixen, Pressekonferenz in Hong Kong, Songwritingcamp in L.A., Englisch singen und Englisch sprechen, zu viele Burger, zu viel Dr. Pepper. Mit dem Rauchen anfangen, um das tagelange Durchhören und Bearbeiten der Gesangstakes einer Sängerin auszuhalten. Überhaupt keine Musik mehr hören können, zehn Wochen Jakobsweg von Paris ans Ende der Welt zum Abnehmen, vielleicht doch lieber Anästhesist werden? Romantische Wanderphantasien, bei der Überquerung der Pyrenäen im Juli im Schnee stecken bleiben. Kaffee, Zigaretten und Orangen als Energielieferant zum Wandern, 58 Kilo, zum ersten Mal Bock, neue Klamotten zu kaufen. Doch kein Anästhesist werden, weil Musikmachen am geilsten ist.
Für X-Factor „Thriller“ in einer Nacht nachproduzieren, von Paul Van Dyk geremixt werden. Lernen wie man einen Kompressor richtig bedient, dreißigster Geburtstag ohne Handyempfang am Fuße des Mount Everest. Eigenes Studio in Berlin, Couch gegen Bett tauschen, das erste Mal auf dem eigenen Herd Süßkartoffelsuppe kochen. Auf Til Schweigers neu gegründetem Label barefoot music anheuern, weil der die Stimme geil findet. Ewig brauchen um Songs für sich selbst zu schreiben, weil man sich daran gewöhnt hat Songs für andere zu schreiben. Viel Kohle ausgeben für Songwritingtrips auf der Suche nach geilen Typen mit geilen Vibes. Geile Typen und geile Vibes im Nachbarstudio finden. Für Cassandra Steen auf der Tour Keyboards spielen und vorher selber Supportact sein, um die neuen Songs auszuprobieren. Monatelangden Labelchef jeden Tag mit Anrufen nerven, es wissen wollen. Sich immer noch für geil gemachten Drei-Minuten-Dreißig Teeniepop begeistern können, Alt-J und Monteverdi zum Feierabendbier hören.
Keine Wahl haben als die eigene Musik genau so zu gestalten, keine Angst vor Plastik haben, Bekenntnis zum Pathos. Gitarre im Garten zupfen, die große Four-On-The-Floor Kickdrum auspacken, Synthies und Cello, zart intonieren und nah ans Mikro gehen, sich die Seele aus dem Leib schreien, Atomlimitting auf der Summe. Fünf Mal mit dem Rauchen wieder aufhören. Orchesterarrangements für Mark Forster zwischendurch. Immer noch von Herzen Englisch singen: von Diamantenstraßen, von Frauen, die einen dann leider doch mehr lieben als andersherum, von Gefangenschaft auf einem Planwagen, von grünen Knöpfen und nihilistischen Weltuntergangswünschen, oder einfach nur darüber, wie geil das Leben sein kann, wenn man etwas zuhört und sich traut.